Highspeed. Highgloss. Highpressure. Korea.
Werte treffen Wandel: Was Korea so wertvoll macht
Südkorea ist nicht einfach ein Land wie jedes andere in Asien. Es ist ein Spiegel, ein Seismograph, ein Testlabor für gesellschaftliche Veränderungen. Und gerade deshalb lohnt es sich, diesen “Wertepartner” genauer unter die Lupe zu nehmen – in einer Welt, in der verlässliche Partner immer seltener werden.
Denn Korea ist Deutschland in vielerlei Hinsicht um Jahre voraus. Demographisch, technologisch, aber auch kulturell. Der Besuch in Seoul im Rahmen einer Delegationsreise von Baden-Württemberg International und dem Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg war eine Reise in die Zukunft. Eine Reise, die viele Fragen aufwarf und ebenso viele Antworten lieferte.

Prof. Rando Kim und YouHyun Alex Suh: Stimmen aus der Zukunft Koreas
Besonders tiefe Einblicke in das koreanische Konsumverhalten und den gesellschaftlichen Wandel verdankt DER TRENDBEOBACHTER dem Gespräch mit YouHyun Alex Suh. Sie gehört als Forscherin und Analystin zum renommierten Team um Prof. Rando Kim, einem der führenden Trendforscher des Landes. Gemeinsam arbeiten sie an dem Jahrbuch “K-Consumer Trend Insights 2025” (ein Buch zu K-Beauty kommt im Juli), die in Korea als Standardwerk für zukünftige Entwicklungen gilt – nicht nur im Marketing, sondern auch in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
Prof. Kim ist bekannt für seine Fähigkeit, gesellschaftliche Strömungen zu erkennen, lange bevor sie statistisch sichtbar werden. YouHyun Alex Suh ist offensichtlich ein essentielles Team-Mitglied.

Ihr Ansatz: Trends sind keine Modeerscheinungen, sondern Spiegel eines kollektiven Wertewandels. YouHyun Alex Suh bringt eine jung-reflektierte Perspektive ein. Mit scharfem Blick und viel Einfühlungsvermögen analysiert sie die Motivationen und Ängste junger Koreanerinnen und Koreaner. Für den bekannten Professor aber auch zum Beispiel für den CEO von Olive Young. Der Kosmetik-Konzern hat – mit ihrer Unterstützung – einen der spektakulärsten POS in Korea eröffnet. In Seongsu. The place to be!
In unserem Gespräch beschrieb sie eindrucksvoll, wie sehr sich das Konsumverhalten in Korea in Richtung Selbstdefinition verschoben hat. Marken seien nicht mehr nur Produkte, sondern emotionale Marker. Konsum sei kein Akt des Erwerbs, sondern der Selbstvergewisserung – eine Bühne für das „Ich von morgen“. Es gehe nicht mehr um Besitz, sondern um Entwicklung: Skill Sets, mentale Stabilität, Außenwirkung, digitale Identität.
In Südkorea gibt es neue Konsumtypen, die für den koreanischen Markt in den kommenden Jahren typisch sein werden:
- der Soulbooster, der in Produkten und Marken emotionale Resonanz sucht,
- die Slow Sumer, die bewusst gegen die Geschwindigkeit der digitalen Welt lebt,
- der Plastic Nomad, der Identität wechselt, sich aber nach Zugehörigkeit sehnt.
Ihre Analyse machte deutlich: Wer verstehen will, was „Next Society“ bedeutet, sollte nicht ins Silicon Valley schauen – sondern nach Seoul.

I. Junge Frauen: Karriere statt Kuss
Junge Frauen Anfang 20 stellen sich in Korea heute ganz andere Fragen als noch vor wenigen Jahren. Die klassische Liebesbeziehung? Steht auf der Prioritätenliste an dritter oder vierter Stelle. Ganz oben:
- Skill-Sets entwickeln
- Zertifikate erwerben
- Bei den Eltern ausziehen
Beziehungen sind teuer – finanziell und emotional. “It’s about me” lautet das neue Credo. Die Investition in sich selbst zahlt sich aus: Online-Kurse, Mental-Health-Angebote, Körperpflege, K-Beauty, Achtsamkeit. #InnerBeauty
Partys? Überbewertet. Der Abend beginnt und endet eher mit: Make-up-Check, Selfie, Make-up-Check, Selfie. Jedes Detail wird inszeniert. Sogar die Heidelbeere auf dem Smooth! Alles andere wäre ja Quatsch.
Diese Bilder landen selten in den sozialen Medien. Warum nicht? Die vorherrschende “Shaming Culture” erlaubt keine allzu öffentliche Selbstinszenierung. Vielmehr geht es um #Evidence – die eigene Veränderung, für sich selbst dokumentiert.
II. Die 4B-Bewegung: Ein stiller Aufstand
Diese Individualisierung führt zu einem gesellschaftlichen Wandel: Die 4B-Bewegung hat in Korea an Fahrt aufgenommen. Sie steht für:
- Bihon: Keine Ehe mit Männern
- Bichulsan: Keine Kinder bekommen
- Biyeonae: Keine romantischen Beziehungen mit Männern
- Bisekseu: Keine sexuellen Beziehungen mit Männern
Was wie eine Randerscheinung klingt, ist ein leises, aber entschlossenes Aufbegehren gegen patriarchale Strukturen. Ausgelöst unter anderem durch einen aufsehenerregenden Femizid in Seoul 2016, steht die Bewegung heute für den Wunsch vieler junger Frauen, ihr Leben selbst zu bestimmen – fernab von traditionellen Rollenbildern.

III. Hinter der Fassade: Allein, schön, erschöpft
Der radikale Wandel hat auch seine Schattenseiten. Südkorea hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt: 2022 gab es 24,1 Selbstmorde pro 100.000 Einwohner. Besonders betroffen: ältere Menschen und junge Frauen.
Einsamkeit ist allgegenwärtig. Tiere ersetzen Beziehungen (Geheimtipp: Mode für Hunde). Selbstoptimierung wird zur Ersatzreligion. Dazu gehören nicht nur Routinen und Pflegeprodukte, sondern auch Schönheitsoperationen. Der “koreanische Look” ist international gefragt. Die Bereitschaft, dafür tief in die Tasche zu greifen, ist hoch. Augen, Nase, Kiefer, Haut: Alles kann, nichts muss – aber viele tun es.

IV. Mit 70 am Limit – und noch immer nicht fertig
Während sich die Jungen neu erfinden, geraten die Alten immer mehr ins Abseits. Viele sind selbst 70 Jahre alt – und pflegen noch ihre eigenen Eltern. Gleichzeitig fühlen sie sich den Kindern verpflichtet.
Das Ergebnis?
- Arbeit trotz Rente
- “Hiding at home”
- Resignation
“They are staring at me”, sagte eine ältere Gesprächspartnerin in Seoul. Wer nicht mehr mithalten kann, wird zur Projektionsfläche einer Gesellschaft, die auf jugendliche Haut und digitale Beweglichkeit setzt. Kein Wunder, dass viele Ältere wütend sind. Wütend auf eine Gesellschaft, die ihnen ewiges Leben verspricht, aber den Alltag immer schwerer macht. So entstand der neue Begriff: #HealthyLivingYears. Es geht nicht mehr nur um Lebenszeit, sondern um Lebensqualität.
V. Der deutsche Blick: Wandel als Einladung
Erstaunlich: Trotz vergleichbarer demografischer Struktur zeigt sich die deutsche Gesellschaft oft weniger offen für technologische Neuerungen. Ob selbstfahrendes Auto oder Augenlidstraffung – der Wille zur Veränderung ist reduziert. Die Studien-, Lern- und Recherchereise nach Korea hat gezeigt, wie wertvoll internationale Perspektiven sind.

Für Zukunftsexperten wie Mathias Haas, für Strategiebeauftragte, für Entscheider*innen jeder Branche gilt: Wer nie über den Tellerrand schaut, verpasst die Abkürzungen dieser Welt. Und ja, es gibt diese Abkürzungen. Aber sie liegen nicht nur in Zürich, Graz oder Hamburg.
Warum wir reisen: Transfer statt Tourismus
Genau für diesen Transfer steht die PLAY SERIOUS AKADEMIE. Sie hilft, die Erkenntnisse solcher Reisen nicht nur zu sammeln, sondern auch in die eigene Strategie zu übersetzen. In Transferrunden während der Reise, aber auch in der kleinteiligen Arbeit danach. Zukunftsbegleitung nennt Mathias Haas und sein Team deshalb das, was sie tun.
Denn Wissen ist nur der Anfang. Veränderung beginnt, wenn aus Wissen Handeln wird.

P.S.
Wer die dramatischen Auswirkungen des demografischen Wandels konkret sehen will, sollte einen Blick nach Busan werfen. Die einst boomende südkoreanische Hafenstadt hat seit 1995 rund 600.000 Einwohner verloren – vor allem junge Menschen. Die offizielle Prognose: Bis 2050 könnte die Bevölkerung um mehr als 33 Prozent schrumpfen. Die südkoreanische Regierung hat Busan inzwischen als Stadt „at risk of extinction“ eingestuft. Der Grund: eine toxische Mischung aus Überalterung, Abwanderung, Wohnungsnot und politischem Versagen.
Busan steht sinnbildlich für viele Regionen der Welt – auch in Europa. Hier wird heute sichtbar, was anderswo noch verdrängt wird: Ohne Perspektiven für die Jungen und ohne Würde für die Alten stirbt nicht nur eine Stadt. Es stirbt ein Gesellschaftsvertrag.
Quelle: Financial Times, 10. Februar 2025: “South Korean city at risk of ‘extinction’ after exodus of young” von Christian Davies und Kang Suseong.